Mobirise

Nicht jeder hat gleich recht -
Ein Plädoyer für Transparenz von Entwicklung

Reto Sauder (Petrol, tiefes subtil, männlich, 6 Flügel 7)
12. Juli 2022

Menschen streiten gerne und viel. Sei es im Parlament, in Onlineforen oder im Freundeskreis… Es gibt kaum ein Thema, das nicht auf irgendeine Weise kontrovers diskutiert wird. Ein Teil von mir findet es durchaus gut, dass gestritten wird. Um sich ein kritisches Urteil bilden zu können, muss sich die eigene Meinung gegenüber möglichen Einwänden zunächst einmal behaupten können; ganz im Sinne eines möglichst freien Meinungsaustausches, wie ihn John Stuart Mill propagierte.
Aber es nervt mich auch… nämlich dann, wenn der Streit zu keinem fruchtbaren Schluss kommt. Und gerade das sehe ich praktisch überall in der Welt. Sei es der Klimawandel, die Genderdebatte oder Bildung und Erziehung: es gibt klare Fronten und scheinbar keine Möglichkeit, zwischen diesen zu vermitteln. Es nervt mich besonders, weil es nicht so sein muss…


Was steckt hinter der ganzen Streiterei?

In meinen eigenen Worten sind es unterschiedliche Wahrheitsansprüche und daraus entstehende Widersprüche. Unter Wahrheitsanspruch meine ich den Umstand, eine bestimmte Perspektive als wahr, richtig, gut, wertvoll etc. zu werten. Demgegenüber stehen dann alle anderen Perspektiven, die diesem Anspruch nicht genügen. Im Wahrheitsanspruch der modernen Naturwissenschaften ist bspw. kein Platz für Theologie. Oder: Für die Taliban ist Frauenmode auf die Burka beschränkt; Boho-Chic ist dort ein Fanal der Ungläubigkeit. Und als Beispiel zum Schulunterricht: Verhaltensänderung (als Ziel des Lernens) durch Konditionierung ist für die Proponenten selbstgesteuerter Lernsettings ein rotes Tuch. Diese Aufzählung kann nach Belieben fortgeführt werden…

Die Konflikte zwischen verschiedenen Wahrheitsansprüchen sind an vielen Orten erkennbar. Egal ob in der Politik (rechts vs. links oder Sozialismus vs. Liberalismus), in der Genderdebatte (Geschlecht als biologische Realität vs. soziologisches Konstrukt), in Epistemologien (empirisch-naturwissenschaftlich vs. hermeneutisch-geisteswissenschaftlich) oder in der Philosophie (z.B. Idealismus vs. Materialismus) finden Grabenkämpfe statt, wobei jede Partei verbissen die Vorteile ihrer Position verteidigt und die Defizite der anderen Seite betont. Dieser Kampf ist auch in der Bildung sehr deutlich. Naheliegend, da Bildung ein Konstrukt aus all den eben aufgeführten Beispielen ist. Hier treffen z.B. autoritäre auf permissive Vorstellungen oder ökonomische Werte auf Idealistische.

Der Konflikt zwischen diesen Wahrheitsansprüchen ist zwar nichts Neues, aber er manifestiert sich in der heutigen Welt aufgrund der hohen Vernetztheit, insbesondere durch das Internet, stärker denn je. Daraus ergibt sich eine entsprechende Dringlichkeit. Die aktuellen globalen Probleme (politischer Populismus, Umweltprobleme, kriegerische Konflikte, soziale Ungleichheit, psychische Belastung…) sind alle ein Ausdruck von diesen Konflikten. Um diese auflösen zu können, benötigen wir offensichtlich ein neues Framework oder Paradigma. Dieses Paradigma muss - als erstes seiner Art - in der Lage sein, die verschiedenen Wahrheitsansprüche miteinander in Beziehung zu setzen und damit zu einer höheren Wahrheit vereinen zu können. Ein Paradigma also, das den Wahrheitsanspruch hat, alle Wahrheitsansprüche integrieren zu können!


Geht Nicht? Gibts Nicht!

Dieses Paradigma existiert. Es wurde vom amerikanischen Philosophen Ken Wilber während der vier vergangenen Dekaden entwickelt und wird als Integrale Theorie bezeichnet. Wie gelingt Wilber diese Integration?

Begeben wir uns zu dessen Darlegung zunächst in das Herz der Aufklärung. Schon vor rund 250 Jahren (!) hat Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft eine Erkenntnis formuliert, die fortan für die Beurteilung jedweder Kontroverse einen Prüfstein gelegt hat. Im Kern lautet seine Einsicht, dass die menschliche Erfahrung der Welt von der Konstitution des Apparates bestimmt ist, der diese Erfahrung generiert.
Eine moderne Interpretation dieser Einsicht wird z.B. durch den Konstruktivismus geliefert: was wir sehen und erkennen können - sei dies empirisch, heuristisch oder kontemplativ - ist durch unser Wesen bedingt. Das bedeutet, dass wir nicht unbeteiligte Teilnehmer an einer objektiven, von uns unabhängigen Realität sind, sondern wesentlich zur Kreierung bzw. der Wahrnehmung dieser Realität beitragen. Bspw. ist uns die Wahrnehmung der materiellen Welt durch die Sinneswahrnehmung gegeben, welche wiederum auf der Funktionsweise der entsprechenden Sinnesorgane beruht. Genauso bestimmen in uns angelegte rationale Gesetze wie Symbolik, Kausalität oder mathematische Regeln über die Fähigkeit, die Geschehnisse in der Welt gedanklich erfassen und ordnen zu können.

Nun sind die Tore der Erkenntnis aber begrenzt. Wir können mit den Augen nur einen winzigen Ausschnitt der Bandbreite von elektromagnetischer Strahlung wahrnehmen. Seit Gödel ist auch Mathematik weder widerspruchsfrei noch vollständig (und wird es auch nie sein) und im Zen Buddhismus schliesslich wird gerade beides, die stoffliche wie geistige Welt, als begrenzt gegenüber dem Absoluten relativiert. Auch im schulischen Alltag ist diese unterschiedlich ausgeprägte Erkenntnisfähigkeit sichtbar, denn die Lehrpersonen können bspw. unterschiedlich gut erkennen, wo ein Schüler gerade steht und was er braucht.
Gerade weil nun jeder Wahrnehmungskanal nur in einem bestimmten Rahmen stattfinden kann, schloss Kant folgerichtig, dass die menschliche Erkenntnis an sich begrenzt ist: wir können “die Wahrheit” oder “Realität” nur zu einem bestimmten Mass erkennen, der Rest bleibt uns verborgen… Es stellt sich unmittelbar die Frage, was dieser Rahmen ist. Denn wenn wir uns der Grenze unserer Erkenntnis bewusst sind, müssen sich - psychologische Verteidigungsmechanismen aussen vor gelassen - gezwungenermassen auch die Diskussionen über Wahrheitsansprüche in Luft auflösen.

Warum beissen wir uns dann heute noch die Zähne an Politik, Religion und Wissenschaft aus?

Nun, offensichtlich unterscheidet sich der Rahmen, der diese Erkenntnisgrenze bestimmt. Viele Naturwissenschaftler können bspw. die Position vertreten, dass die Theologie einfach ausserhalb des Wahrheitsanspruches der Naturwissenschaft liegt und sie deshalb gar nicht beurteilen können, ob es einen Gott gibt. Die postmodernen Sprachwissenschaften wie Semiotik oder Strukturalismus können - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften - die Symbolik unserer inneren Welt zwar interpretieren und somit beschreiben, doch sobald es um Aussagen über die materielle Wirklichkeit der Welt geht ist auch bei ihnen Schicht im Schacht. Wir können dieses Spiel beliebig weiterführen… Es gibt verschiedene Perspektiven auf die Welt und alle haben eine bestimmte Aussagekraft, aber sie sind gleichzeitig auch begrenzt. Ein oft zitierter Satz in diesem Zusammenhang lautet: “True, but partial.” Und genau das beschreibt eben auch den Zustand, in dem wir uns heute befinden. Wahrheit ist relativ und liegt im Auge des Betrachters… sogar die Quantenmechanik scheint dem zuzustimmen und damit scheint diese Geschichte erledigt zu sein.  


Oder Nicht?

Für die Auflösung müssen wir einen Sprung von rund 200 Jahren vorwärts machen. Im vergangenen Jahrhundert begannen verschiedene Entwicklungspsychologen, bestimmte innere Fähigkeiten - wir können diese als verschiedene menschliche Intelligenzen bezeichnen - zu untersuchen und beschreiben. Zu diesen untersuchten Intelligenzen gehören bspw. Kognition, Moral, Emotionen, Selbst-Identität, Bedürfnisse und sogar das Weltbild. Alles Aspekte, die direkt über unsere Wahrnehmung der Welt und damit auch die Bildung von Wahrheitsansprüchen bestimmen. Im obigen Sinne konstituieren diese Intelligenzen eben unsere Wahrnehmungsweise. Spannenderweise hatten diese Studien ein gemeinsames Ergebnis: sie alle zeigten eine stufenförmige, sequentielle Entwicklung, d.h. sie alle durchlaufen bestimmte konkrete Formen in einer vorgegebenen Reihenfolge. Und jede neue Stufe zeigt neue und umfassendere Formen, die Welt zu erfassen und darin zu handeln.

Daraus ergibt sich ein Menschenbild, in dem wir als Kinder mit einem Set von Grundfähigkeiten starten und diese während der gegebenen Lebensspanne zunehmend ausbauen können. Durchlaufene Stufen bleiben dabei erhalten und so kann das menschliche Bewusstsein Schritt um Schritt zu einer umfassenderen Wahrnehmung der Welt gelangen. Entwicklung ist also nicht einfach fertig mit Erreichen des Erwachsenenalters!

Aus diesem Menschenbild ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen: Zum Einen wird die Entwicklung eines Menschen anhand diverser Stufenmodelle genug genau beschreiben, um verschiedene Entwicklungsstufen - also konkrete Ausprägungen der verschiedenen Intelligenzen - so scharf voneinander zu differenzieren, dass die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen als Kämpfe von sich entwickelnden Perspektiven erkannt werden können. Jede Stufe ist zu einem gewissen Mass von Erkenntnis in der Lage und die Kämpfe entstehen aus Widersprüchen zwischen diesen Erkenntnissen.

Zum Anderen ergibt sich aus der Beschreibung dieser Stufen aber auch eine klare Hierarchie. Weil wir uns entwickeln, verschieben sich auch die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit! Höhere Stufen von Fähigkeiten bilden auf den Vorhergehenden auf und umfassen diese, integrieren sie. Wahrnehmung und Erkenntnis zeigen also eine hierarchisch wachsende Struktur, in der die Wahrheitsansprüche umfassender werden.

Sie sind nicht gleichwertig und können im Vergleich zueinander mehr oder weniger Wahrheit beinhalten.

Eigentlich ist uns das allen auf eine intuitive Art und Weise schon klar. Wir erwarten z.B. nicht von unseren Kindern, eine Integralrechnung lösen zu können (hoffe ich zumindest…) oder von meinem Nachbar, der Metzger ist, mein Herz zu operieren (ausser ich bin suizidal…). Sogar viele unserer Gesetze sind genau darauf gegründet (Autofahren, Abstimmen, Sex, Alkoholkonsum…). Wir nehmen diese Entwicklungsunterschiede also sowieso schon ernst, warum zum Teufel also nicht konsequent? Denn durch die oben beschriebenen Entwicklungsstufen steht uns eine exakte Beschreibung davon zur Verfügung, was eine Person überhaupt in der Lage ist zu erkennen! Und dementsprechend auch, ob sie in der Lage ist, ein qualifiziertes Urteil über einen gegebenen Sachverhalt zu fällen bzw. adäquate Massnahmen zu entwerfen. Dass wir Menschen über komplexe Themen wie Gentechnik, die Altersvorsorge, Regulationen des Finanzmarktes und gerade auch das Bildungswesen abstimmen lassen, die nicht viel mehr als eine Meinung darüber haben können, ist wahrlich keine Glanzleistung der Demokratie, gegeben dass kompetente und produktive Entscheidungen das Ziel sind!

Die Konflikte durch Wahrheitsansprüche sind also unterschiedliche Weltanschauungen, die aufeinander prallen. Doch wir dürfen vor diesem Umstand nicht kapitulieren. Es gilt, auf der einen Seite die Grenze der Erkenntnisfähigkeit zu respektieren und andererseits Kompetenz und Einsicht innerhalb einer gegebenen Perspektive als Ressource zu nutzen. Dafür müssen sich alle Beteiligten aber auf zwei Punkte einlassen:


Erstens muss der individuelle Entwicklungsstand explizit werden.

Das würde ermöglichen, dass der geäusserte Wahrheitsanspruch im Gesamtkontext aller Wahrheitsansprüche verortet und damit die Validität seiner Aussage bezüglich ihrem Subjekt geprüft werden kann. Damit wäre klar, aus welcher Perspektive eine bestimmte Aussage stammt und was diese Perspektive überhaupt in der Lage ist zu erkennen - und auch worüber diese Perspektive keine qualifizierte Beurteilung machen kann.
Wir tun das zwar schon zu einem gewissen Mass durch verschiedene Zertifizierungen und gesetzliche Richtlinien, aber eben nicht konsequent bzw. zu wenig differenziert. In den meisten Fällen sind einfache Dichotomien in Kraft, wie z.B. beim Stimmrecht, vielen beruflichen Qualifikationen, dem Autofahren, Alkoholkonsum oder Schusswaffen. Kaum vorhanden sind mehrstufige Unterscheidungen wie z.B. die Abschlüsse im Bildungswesen. Als Konsequenz dieser äusserst groben Beschreibung von Entwicklungsunterschieden existieren einige wenige Gruppen von Menschen, die sich nach dieser Einteilung entwicklungstechnisch nicht unterscheiden. Alle erwachsenen Schweizer Bürger*Innen dürfen zu allen Themen abstimmen, Kinder zeugen oder ihre Meinung im Internet kund tun - ohne den Kontext ihrer Entwicklung dabei transparent zu machen. So gesehen stehen auch alle Aussagen zum Zustand des Bildungswesens oder die Beschreibung von Lehr-Lern-Prozessen anhand verschiedener pädagogischer und didaktischer Theorien und Modelle im luftleeren Raum, ohne einen ersichtlichen Zusammenhang zueinander zu haben…


Zweitens benötigt es Demut gegenüber Kompetenz und grösseren Perspektiven.


Exzellenz, überragende Einsicht und Fähigkeiten sind der Motor für jeden fortschrittlichen Wandel und es ist nur weise, sich diese zu Nutzen zu machen. Leider ist diese Haltung auch nicht gerade ein populäres Attribut des heutigen Zeitgeistes, in dem narzisstischer Grössenwahn und hedonistische Selbstverherrlichung (etliche Figuren in Politik, Wirtschaft und Entertainment), aber auch übertriebene Toleranz und undifferenzierte Einfühlsamkeit (z.B. Putinversteher oder gegenüber der Opferhaltung, die in der Debatte über sexuelle Gewalt herrscht) durchaus als Charaktermerkmale einer erfolgreichen und respektablen Persönlichkeit gelten.

Im Sinne dieser Diskussion propagiere ich also für alle, die in irgendeinem Diskurs zu Wahrheitsansprüchen teilnehmen, eine radikale Transparenz der persönlichen Entwicklung. Um diesen Aussagen in einen Gesamtkontext zu rücken und sie so aus einem verhältnislosen Einheitsbrei zu befreien.

Fusszeile

1.  On liberty (dt. Über die Freiheit) von John Stuart Mill.
2. 
Auch als Integrales Framework bezeichnet. Das von Wilber formulierte konkrete Modell dazu lautet AQAL (all quadrants, all levels). AQAL vereint alle ontologischen Entitäten der Welt auf kohärente und umfassende Weise in eine übersichtlich strukturierte Landkarte.
3. 
Dies war übrigens auch Kants Sicht: “Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.”
4. Im berühmten Doppelspaltexperiment konnte gezeigt werden, dass sich Teilchen wie z.B. Elektronen auch als Welle verhalten (Welle-Teilchen-Dualismus). Welche dieser beiden Formen es annimmt, ist abhängig davon, ob und wann das Elektron beobachtet (gemessen) wird.
5. Hier ist wichtig anzumerken, dass Entwicklung horizontal und vertikal geschehen kann. Horizontale Entwicklung bleibt auf einer Stufe, es ist die quantitative Weiterentwicklung einer Fähigkeit wie z.B. die Additionsrechnung immer besser zu beherrschen. Vertikal dagegen meint die Emergenz neuer Fähigkeiten, die nicht komplett auf die Vorhergehenden zurückführbar sind: die Addition ganzer Zahlen kann nicht mit sich selbst bewiesen werden.
6.  Hier ist die Analogie einer Leiter anschaulich: Um auf eine bestimmte Leiterstufe zu gelangen, müssen zuerst die Stufen davor erklommen werden.
7.  Mindestens der Bewusstseins- und Zustandsschwerpunkt, das Geschlecht und der Enneagrammtyp sollten deklariert werden - im besten Fall durch den den Autor selbst sowie durch eine eine externe Beurteilung.

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