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Zur Bedeutung eines gemeinsamen Verständnisses von Bildung

Reto Sauder, 18. Februar 2022

Als angehende Lehrperson habe ich mich während meinen Ausbildungsjahren noch relativ unbeschwert mit den grossen Fragen befasst, die sich zur Bildung stellen lassen, z.B.:

Was ist Schule eigentlich?
Wie kam die Institution Schule zur heutigen Form?
Was macht eine gute Lehrperson aus?
Welche Faktoren tragen zum Erfolg von Schule bei?

Die Auseinandersetzung damit kam jedoch zu einem abrupten Unterbruch, als ich mit der alltäglichen Unterrichtspraxis konfrontiert wurde. Einen Unterrichtsblock für eine rund 20-köpfige Klasse vorzubereiten und umzusetzen verschlang sofort jede Ressource (und auch Muse), mich noch mit Themen zu befassen, die (scheinbar) wenig zur Bewältigung meiner unmittelbaren Aufgaben beitrugen.
Im Nachhinein, mit knapp 10 Jahren Unterrichtserfahrung und einer bedeutenden persönlichen Entwicklung anhand intensiver körperorientierter, tiefenpsychologischer und geistiger Arbeit erscheint mir die Auseinandersetzung mit diesen fundamentalen Fragen wichtiger denn je! Aus meiner heutigen Warte ist es sogar so, dass wir nur auf Basis einer gemeinsamen Vorstellungen von Bildung die Ziele erreichen können, wie sie in den aktuellen Lehrplänen festgehalten sind.

Die Bedeutung dieser Auseinandersetzung möchte ich anhand der Analogie zur Sprache verdeutlichen: Sprache funktioniert alleine über die Bedingung gemeinsamer Begriffsverständnisse. Nur wenn dieses gemeinsame begriffliche Verständnis vorhanden ist, kann eine sinnvolle Kommunikation zwischen Individuen stattfinden. Auf die Bildung übertragen bedeutet das: nur wenn wir - die im Bildungswesen tätigen Personen - gemeinsame Antworten auf die obigen Fragen haben, kann eine kohärente Vision von Schule entstehen.
Ohne an dieser Stelle auf technische Details einzugehen, warum dieser Vergleich berechtigt ist, zeigt er unmittelbar auf, dass Schule ohne gemeinsame Antworten zu den obigen Fragen letztlich wie eine Gruppe von Menschen funktioniert, die sich sprachlich nicht verstehen können.

Nun mag der Vergleich zu krass wirken… denn offensichtlich funktionieren schweizer Schulen nach bestimmten Massstäben (die Schüler können nachweislich Kompetenzen wie Lesen, Schreiben oder Rechnen erwerben), also können die Vorstellungen der daran beteiligten Akteure gar nicht so fest auseinander gehen. Einverstanden, der Punkt liegt jedoch im Detail der gemeinsamen, kohärenten Vision. Bezüglich der genannten Kompetenzen scheint (alle im wesentlichen fachlicher Natur) genug Übereinstimmung zu herrschen.
Sobald wir jedoch diesen gemeinsamen Nenner verlassen und uns Themen wie der Zusammensetzung des Fächerkanons, überfachlichen Kompetenzen oder der Form von gutem Unterricht zuwenden, landen wir im Graben…
Ich zitiere einige Beispiele aus dem Lehrplan 21 (also eigentlich Konsens darstellen sollten), bei denen - z.B. bei den Lehrpersonen - mit Sicherheit kein gemeinsames Verständnis bezüglich deren Bedeutung herrscht (mögliche Fragezeichen sind in [Klammern] aufgeführt; Kursiv von mir als Begriffe mit Potential für Uneinigkeit):

  • Aus den Bildungszielen:
    Bildung ist ein offener, lebenslanger und aktiv gestalteter Entwicklungsprozess des Menschen. [Was heisst offen? Welche Form hat die Entwicklung?]
  • Bildung ermöglicht dem Einzelnen, seine Potenziale in geistiger, kultureller und lebenspraktischer Hinsicht zu erkunden, sie zu entfalten und über die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt eine eigene Identität zu entwickeln. [Was umfasst das menschliche Potential?! Was bedeutet lebenspraktisch genau? Welche Form von Identität ist gemeint?]
  • Aus den personale Kompetenzen:
    Die Schülerinnen und Schüler können eigene Gefühle wahrnehmen und situationsangemessen ausdrücken. [Was ist mit unterdrückten Gefühlen? Was bedeutet situationsangemessen?]
  • Die Schülerinnen und Schüler können ihre Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen und formulieren. [Analog oben: wie steht es um unterdrückte Bedürfnisse?]
  • Aus den sozialen Kompetenzen:
    Die Schülerinnen und Schüler können sich in die Lage einer anderen Person versetzen und sich darüber klar werden, was diese Person denkt und fühlt. [Implizit: alle Menschen können im gleichen Umfang Fühlen und Denken… ist das so?]
  • Die Schülerinnen und Schüler können Formen und Verfahren konstruktiver Konfliktbearbeitung anwenden. [Welche Formen und Verfahren sind konstruktiv?]

Um es noch explizit zu machen: Ich möchte mit diesen Beispielen nicht deren Berechtigung kritisieren (im Gegenteil finde ich sie alle wichtig), sondern darauf hinweisen, dass eben im genauen Verständnis davon die Meinungen auseinandergehen werden.
Ich persönlich kann mich vollkommen dem Bildungsziel lebenslanger Entwicklung anschliessen, aber gleichzeitig weiss ich auch, dass meine Vorstellung davon erheblich von der Vorstellung anderer Lehrpersonen abweicht! Und genau hier sollte durch die Bedeutung des obigen Vergleichs zwischen Sprache und Schule erkennbar sein: Erst in Übereinstimmung in diesen fundamentalen Fragen kann die gleiche Funktionalität zustande kommen, wie wir sie in den Sprachen oder Mathematik im Wesentlichen haben.

Insofern plädiere ich für eine Auseinandersetzung aller in der Bildung beteiligten Personen mit diesen Fragen. Ziel dieser Auseinandersetzung ist zunächst nicht ein Konsens in den Antworten, sondern eine klare, transparente Positionierung. Dadurch würde einmal klar werden können, wo wir - die Akteure des Bildungswesens, die Bildung konkret umsetzen - genau stehen und was wir erreichen möchten. Erst auf dieser Grundlage kann dann als nächster Schritt eine gemeinsame Vision und ein konkreter Weg, diese Vision zu realisieren, angegangen werden. Durch gemeinsame Vorstellungen von Bildung, Entwicklung und dem menschlichen Potential kann, wie ich nun hoffe verdeutlicht zu haben, eine umfassendere Form der Bildung entstehen, in der das ganzheitliche Wachstum zu gesunden, verantwortungsbewussten, engagierten und liebenden Menschen als höchstes Ziel steht. Und ja, das ist meine Vorstellung von Bildung!

Wir von der Integralen Bildung sehen es als eine unserer Aufgaben, bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu einem kohärenten Verständnis von Bildung als Katalysator zu wirken. Wir sehen insbesondere in der Anwendung des Integralen Frameworks die beste - tatsächlich sogar die einzige - Möglichkeit, die verschiedenen Vorstellungen, Werte und Modelle im Bildungswesen zu vereinen und dadurch den Weg für die Schule von morgen zu ebnen.

Hat dieser Text Fragen oder Anregungen ausgelöst? Wir freuen uns über deine Kontaktaufnahme!

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