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Bewusstseinsstufen für eine bessere Bildung

Reto Sauder, 07. Juni 2022

Einer der wichtigsten Elemente des Integralen Frameworks (AQAL) bilden die sogenannten Bewusstseinsstufen. Sie erlauben eine differenzierte Sicht auf das Wesen der menschlichen Wahrnehmung und dessen Entwicklung. Deswegen erachten wir es als enorm wichtig, dass die Bewusstseinsstufen ihren Weg in die Bildung und Pädagogik finden.

Der Begriff Bewusstseinsstufe mag zunächst verdächtig wirken, doch sind damit weder Scientology Ränge noch irgendein esoterisches Voodoo gemeint. Tatsächlich sind die Bewusstseinsstufen eine Entdeckung der modernen Entwicklungspsychologie und fassen verschiedene Stufenmodelle der menschlichen Entwicklung zu einem wichtigen Element in AQAL zusammen. AQAL selber ist ein Akronym für all quadrants, all levels (auf deutsch alle Quadranten, alle Stufen) und steht für ein ganzheitlich umfassendes Weltbild, das es schafft, alle Phänomene der menschlichen Erfahrung in ein kohärentes Ganzes zu setzen. Eigentlich ist schon das alleine einen eigenen Artikel wert, aber ich möchte mich hier nur mit einem Aspekt von AQAL - eben den Bewusstseinsstufen - befassen und ihre allgemeinen Bedeutung von AQAL für Bildung und Pädagogik aufzeigen.

Einfach gesagt ist AQAL eine Art Landkarte. Landkarten sind vereinfachte Abbildungen der Welt, mit denen wir uns darin orientieren können. Genau das tut auch AQAL: wir können uns damit in der Komplexität und manchmal auch Widersprüchlichkeit der Welt Übersicht und Orientierung verschaffen.


Genau hier kommen die Bewusstseinsstufen ins Spiel! 

Zunächst zum Begriff Bewusstsein an sich: Wir alle sind nicht bloss mechanische Körper, die sich geistlos - wie etwa eine Maschine - durch die Welt bewegen (obwohl diese Position von einigen Menschen eingenommen wird). Zusätzlich zur Wahrnehmung dieses Körpers (und allen anderen stofflichen Dingen der Welt) besitzen wir alle auch ein subjektives, inneres Erleben. Unser Bewusstsein umfasst also Dinge der Umgebung (Materie und Energie / Dinge mit einem Ort in der materiellen Welt) und Wahrnehmungen “in uns drin” (bspw. Gefühle, Symbole oder Regeln / alle Phänomene ohne Ort in der materiellen Welt).

Eine faszinierende Frage ist nun, wie diese Gesamterfahrung des menschlichen Bewusstseins genau beschaffen ist! Wie nehmen wir also die Welt und uns selbst wahr und welche Interpretationen ziehen wir daraus? Offensichtlich gibt es diesbezüglich zwischen verschiedenen Menschen grosse Unterschiede: Kinder erleben die Welt völlig anders als Erwachsene, Männer und Frauen reagieren unterschiedlich auf das andere Geschlecht und sogar zwischen gleich geschlechtlichen, gleich alten Menschen sind Kontroversen darüber, wie die Welt beschaffen ist, praktisch allgegenwärtig (siehe Politik, Religion, Weltbild, Werte etc.)


Was sind also nun Bewusstseinsstufen?

Und inwiefern sind sie für die Schule wichtig?

Sie beschreiben die grundlegenden und gemeinsamen Aspekte der menschlichen Erfahrung, wie sie von bestimmten Gruppen von Menschen geteilt werden. Anders formuliert besagen die Bewusstseinsstufen, dass die Eigenschaften der subjektiven Erfahrung also auf einer fundamentalen Ebene von vielen Menschen geteilt wird. Diese Gruppen teilen diejenigen geistigen Strukturen, welche ihrer Sicht auf die Welt zugrunde liegen: sie haben vergleichbare Werte, eine vergleichbare Kognition und eine vergleichbare emotionale Bandbreite. Sie sind zwar nicht identisch, weil wir schlussendlich Individuen mit einer eigenen Geschichte und kulturellem Umfeld sind, aber sie teilen eben fundamentale Gemeinsamkeiten in den Qualitäten ihres Wesens.

Aber es geht noch weiter: die Bewusstseinsstufen beschreiben nicht nur die Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins. Sie beschreiben auch, wie sich dieses Bewusstsein entwickelt. Wir können am Beispiel von Kindern intuitiv erkennen, dass Bewusstsein einem Wachstum unterliegt, also über Zeit grösser wird und so mehr Teile der Welt erfassen kann. Nach dem Erlangen grundlegender motorischer Fähigkeiten lernen Kinder Dinge zu erkennen und benennen, sie können Regeln und immer komplexere Sachverhalte verstehen. Ihre Welt wird sprichwörtlich grösser indem sie zunehmend Selbstverantwortlichkeit, Bewegungsfreiheit und Mitgefühl erlangen. Und genau dieser Verlauf der menschlichen Entwicklung wird durch die Bewusstseinsstufen umfassend beschrieben.

Wir halten diesen Verlauf hier nur allgemein fest, für eine genaue Beschreibung sei auf die umfangreiche Literatur von Ken Wilber verwiesen. Als groben Überblick sind die folgenden drei essentiellen Punkte aufgeführt; je mit einem Beispiel, welche den Kern der menschlichen Entwicklung anhand der Bewusstseinsstufen einfangen:

1. Das menschliche Bewusstsein verläuft in einer linearen Entwicklung. 

Darin können keine Abschnitte übersprungen werden und alle Menschen durchlaufen dieselbe Form von Entwicklung (wenn auch nicht unter denselben Bedingungen und in derselben Geschwindigkeit).
Beispielsweise wächst die Moral von präkonventionell (stark Ich-bezogen, eigene Bedürfnisse werden über die der anderen gestellt) über konventionell (persönliche Bedürfnisse werden dem Wohl der Gruppe untergeordnet) zu postkonventionell (Integration persönlicher Bedürfnisse und dem Wohl der anderen). Diese Reihenfolge ist bei allen Menschen identisch, es wurde also noch nie beobachtet, dass ein Individuum von präkonventionell direkt zu postkonventionell springt. Das Gleiche gilt für alle anderen menschlichen Fähigkeiten wie Kognition, Weltsicht, Bedürfnisse etc..


2. Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins zeigt voneinander abgrenzbare Abschnitte

Diese werden als Stufen bezeichnet, analog den Stufen einer Leiter; mit dem Erklimmen der Leiter als Sinnbild von Entwicklung. Möglich ist die Abgrenzung anhand konkreter, stufenbedingter Ausprägungen des Bewusstseins (z.B. Kognition, Moral, Selbstidentität oder Emotionen).
Wie unter 1) beschrieben zeigt bspw. die Moral stufenspezifische Formen, die von allen Mitgliedern dieser Stufe geteilt werden. Anschaulich seien hier vierjährige Kinder genannt: sie verfolgen nur ihre eigenen Interessen verfolgen und berücksichtigen das Wohl ihrer Mitmenschen nicht (= präkonventionell). Die Mitglieder der nächsten moralischen Stufe (tritt ab ca. 7 Jahren auf) teilen im Anschluss an zu präkonventionell nun die Eigenschaften von konventionell, ordnen sich selber also dem Wohl der Gruppe unter (Kinder halten sich an Regeln oder möchten nicht mehr aus der Gruppe herausstechen). Innerhalb der beiden Stufen treten keine weiteren Ausprägungen hinzu und sie sind klar voneinander abzugrenzen.


3. Eine gegebene Stufe des menschlichen Bewusstseins umfasst alle Eigenschaften der vorherigen Stufen und fügt jeweils neue, emergente Ausprägungen hinzu. 

Diese neuen Ausprägungen ermöglichen umfassendere Perspektiven und Wahrnehmungen; in dem Sinne beschreiben sie auch das Potential des menschlichen Wachstums.
Anschaulich am Beispiel der Kognition: für die Anwendung abstrakter Formeln in den Naturwissenschaften (formal-operational) bleibt das vorhergehende Verständnis von arithmetischen Regeln (konkret-operational) erhalten. Gleichzeitig bildet das Verständnis von Variablen als beliebiger Wert eine emergente Eigenschaft, da dies nicht auf die Funktion konkreter Zahlen reduziert werden kann.


Warum halten wir es nun für wichtig, dass die Bewusstseinsstufen in der Bildung mit einbezogen werden?

Ganz allgemein betrachtet dient Bildung der Begleitung und Förderung der menschlichen Entwicklung. Konkreter formuliert sollen Kindern und Jugendlichen durch Bildung grundlegende Kulturfertigkeiten wie Rechnen und Schreiben vermittelt werden, aber auch Verantwortungsbewusstsein, kritisches Denken, Selbst- und Sozialkompetenz. Insgesamt wollen wir den Kindern ermöglichen, ihren individuellen Platz in der modernen, freien demokratischen Gesellschaft finden zu können und daran teilhaben.

Mit dem Ziel dieser Entwicklung vor Augen folgen für die Bildung bestimmte Konsequenzen. Vor allem muss Bildung darauf bauen, wie diese Entwicklung vonstatten geht und welche Bedingungen sie ermöglichen (bzw. verhindern)! Die Natur der menschlichen Entwicklung diktiert also, welche Form von Bildung (im Sinne von Entwicklungsförderung) diese Entwicklung am besten ermöglicht.

Zu einem gewissen Mass ist dieser Umstand natürlich schon Konsens in der Pädagogik, aber gleichzeitig existieren auch deutliche Uneinigkeiten. Folgendes Zitat aus der Wikipedia verdeutlicht dies unmittelbar:

“Es besteht innerhalb der Disziplin kein Konsens über die Ziele und Aufgaben der Pädagogik/Erziehungswissenschaft.” Diese Aussage deckt sich sicherlich auch mit der persönlichen Erfahrung von Pädagog*Innen - nichts anderes was wir gerade oben in der Beschreibung der Bewusstseinsstufen so formuliert haben!! Die Bewusstseinsstufen setzen diese Uneinigkeiten sogar explizit voraus, sie sind einfach das Produkt eines unterschiedlichen Verständnis der Welt, in diesem Fall bezüglich dem Ziel der Pädagogik.

Mit AQAL und den Bewusstseinsstufen wird die Form der menschlichen Entwicklung umfassend und widerspruchsfrei erklärt, vor allem unter Einbezug der inneren Aspekte wie Bedürfnissen, Selbst-Identität, Moral, Emotionen, Werten und Spiritualität. Es beschreibt also das Potential und den Verlauf des menschlichen Wachstums, oder anders formuliert: was ist der Mensch, was kann er werden und wie kann er das werden?


Durch die Bewusstseinsstufen erhalten wir eine vollständige Landkarte der menschlichen Entwicklung, nach der ein ganzheitlicher Bildungsweg geplant werden kann!


Diese Landkarte ist sich der unterschiedlichen Perspektiven aller Beteiligten - Schüler, Pädagogen, der Administration, Eltern etc. - bewusst und kann diese in einen Zusammenhang integrieren, anstatt sich in einem fragmentierten Haufen von Konzepten ohne offensichtlichen Bezug zueinander bewegen zu müssen.

Im heutigen Bildungssystem wird aufgrund dieser Fragmentierung die Natur der individuellen Entwicklung kaum berücksichtigt - es bewegt sich in rigiden Strukturen wie Jahrgangsklassen, Stundenplänen und Curricula, die auf einschränkenden Vorstellungen und Gesellschaftsstrukturen gründen. Der stärkste Motor von Entwicklung, der intrinsische Antrieb nach Neuem und Freude, wird dadurch nachhaltig abgewürgt. In der pädagogischen Erfahrung zeigt sich klar, dass sich Entwicklung nur bedingt verallgemeinern lässt. Zu individuell sind Interessen, Fähigkeiten und Tempo der Kinder. AQAL bietet eine Grundlage dafür, was eine wahrhaftig differenzierte Schule beinhalten muss, damit sie dem Individuum tatsächlich gerecht wird.

Den Einbezug der Bewusstseinsstufen würde also eine tiefgehende und nachhaltige Verbesserung des Bildungswesens mit sich bringen. Im dem Sinne, dass wir den Auftrag von Bildung als die bestmögliche Entwicklung des Potentials jedes Menschen erachten, halten wir ihren Eingang in die moderne Pädagogik für unverzichtbar.

Fusszeile

1. Wie z.B. von J. Piaget, C. Graves, J. Loevinger oder J. M. Baldwin.
2. Das AQAL Framework wurde durch den amerikanischen Philosophen Ken Wilber seit den 90er Jahren entwickelt, dessen Gesamtwerk zur ausführlichen Auseinandersetzung damit wärmstens empfohlen sei.
3. Die Einteilung der Wahrnehmung in objektive und subjektive Phänomene wird in AQAL durch die zwei fundamentalen Dimensionen Innen und Aussen beschrieben. Sie entsprechen vielerlei dualen Kategorien, die in der Philosophiegeschichte kontrovers diskutiert wurden wie Geist und Körper, Rationalismus und Empirismus oder das Schöne und Wahre. Innen und Aussen können in AQAL nicht aufeinander reduziert werden, sie bilden die Realität kokreativ, also durch gemeinsames Wirken. Sie sind eine Entsprechung und gegenseitiger Ausdruck.

4. Vgl. Integrale Psychologie von Ken Wilber für eine detaillierte und umfassende Beschreibung der Bewusstseinsstufen.
5. Insbesondere die Werke Das Atman-Projekt, Wege zum Selbst und Integrale Psychologie.
6.  Ausführlich beschrieben durch L. Kohlberg und C. Gilligan.
7. Vgl. die Beschreibung der kognitiven Entwicklung durch J. Piaget.
8. https://de.wikipedia.org/wiki/P%C3%A4dagogik#Aufgaben_der_P%C3%A4dagogik/Erziehungswissenschaft, abgerufen am 21.05.2022.

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